Es gibt wohl kaum ein Thema, welches die Menschen in unserem Land so bewegt, wie der Sexueller Mißbrauch von Kindern. Die gängigen Assoziationen sind dabei Nötigung, Gewalt und Zwang, die meist an sehr jungen Mädchen begangen wird. Dabei versteht man unter dem juristischen Fachtermini „Sexueller Mißbrauch” jeden sexuellen Kontakt mit einem Kind, unabhängig von Gewalt oder Zwang. Das es jenseits dessen noch andere Realitäten gibt, die aber im Zusammenhang mit den allgegenwärtigen Vorstellungen, immer wieder in Zweifel gezogen werden, ist kaum bekannt. Eine davon ist der vom Kind gewollte Sexualkontakt mit einem Erwachsenen.

Die AHS e.V. möchte sich diesem Thema annehmen und hat deshalb zur Gründung einer Fachgruppe aufgerufen, die sich mit dem Thema beschäftigt. Eine beteiligte Frau möchte ich im Folgenden dazu befragen, sie ist ein Teil der von vielen ignorierten Realität.

Interviewer:

Was Du da erlebt hast, ist sicher etwas sehr Ungewöhnliches. Wie alt warst Du damals und wie würdest Du Dich selber einschätzen? Warst Du ein ganz normales Mädchen oder eher Deiner Zeit voraus?

Anonymisiert:

Nun, daß das wirklich so ungewöhnlich ist, möchte ich bezweifeln, es wird höchstens dazu gemacht bzw. in einer negativen Weise stilisiert. Doch zunächst einmal zu Deiner Frage.

Ich muß meine Antwort leider etwas differenzieren, denn es war nicht gerade ein sehr kontinuierliches Erlebnis. Leider. Die erste erotische Begegnung mit meinem damaligen Bekannten hatte ich mit 11, was jedoch nur einige Minuten dauerte und auch nichts „Dramatisches“ – wie so viele jetzt wohl sagen würden – war. Dem folgte dann eine ziemlich lange Pause, wohl am ehesten „Peinlichkeitspause“ zu nennen, denn mir scheint bis heute so, daß ihm das wohl ein bißchen peinlich war und er auch nicht wußte wie er sich nun mir gegenüber verhalten soll. Das änderte sich dann, als ich ihm zwei Jahre später, in den Sommerferien niedergestreckt durch ein Gipsbein, einen Brief schrieb und ihn darauf ansprach. Ich fand es nämlich sehr schade, daß unsere Freundschaft so abgeflaut war und er auch. Er bot mir darauf hin an, daß wir uns ja mal wieder treffen könnten, zum Quatschen „und so“. Klar, daß meine nächste Frage war, was mit „und so“ denn gemeint sei, ob er… Ja, auch das meinte er, wenn ich auch wollte. Klar, daß ich wollte, denn das, was ich dieses eine Mal erlebt hatte, war wunderschön gewesen.

Was meine Selbsteinschätzung betrifft so denke ich, daß man durchaus sagen kann, daß ich meiner Zeit voraus war. Zumindest mit 13, wie es mit 11 war, kann ich so genau nicht mehr beurteilen, aber vermutlich war ich auch da schon um einiges weiter als so manch anderer. Allerdings möchte ich das vor allem geistig verstanden wissen. Ich war ein Kind, und daran hat sich eigentlich nie mehr etwas geändert, daß sehr viel geistigen Forschungsdrang besaß. Dementsprechend war natürlich auch meine diesbezügliche Entwicklung. Körperlich gesehen würde ich jedoch eher sagen, daß ich dem Durchschnitt entsprach.

Interviewer:

Von wem ging den bei diesem Erlebnis mit elf die Initiative aus? Kannst Du das noch nachvollziehen? Oder ist es einfach passiert?

Anonymisiert:

Sicher kann ich das noch nachvollziehen. Soweit man solche Ereignisse eben nachvollziehen kann, denn die Frage der Initiative ist in meinen Augen eine sehr komplizierte Frage. Von Initiative zu reden hat in den Augen der meisten Be- oder Verurteiler immer den faden Beigeschmack von Schuldzuweisung. Ich sehe das allerdings etwas anders; eigentlich ist es egal, wer „angefangen“ hat; es war ein beeindruckendes Erlebnis, das ist für mich eigentlich das einzig Wichtige. Die „Handlungsinitiative“ ging von ihm aus. Wie es eigentlich genau dazu gekommen ist, weiß ich gar nicht mehr so genau. Wir saßen abends bei ihm auf der Couch, spielten Computer und machten dann irgendwann mal eine kurze Pause. Ich war ein bißchen erledigt und streckte mich mal kurz auf der Couch aus, da fing er an, mich zu streicheln und kuschelte sich neben mich. Ich lag einfach da, mit geschlossenen Augen und habe genossen. Die Nähe, die Wärme. Leider war nach wenigen Minuten diese so angenehme Situation vorbei.

Und sie blieb es auch erst einmal, für eine lange – zu lange – Zeit.

Interviewer:

Und wie war das „Danach”? Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Hat in dieser Zeit bei Dir eine Auseinandersetzung mit diesem, wenn auch undramatischen, Erlebnis stattgefunden? Gab es davor sexuelle oder erotische Erlebnisse mit Gleichaltrigen, so daß Du Dein Erlebnis mit dem Erwachsenen irgendwie einordnen konntest, oder hatte das ganze für Dich eine eher geringe Tragweite?

Anonymisiert:

Erst einmal wirkte sich dieses Erlebnis gar nicht weiter aus. Ich fand es nur schade, daß ich ihn kaum mehr zu Gesicht bekam. Mal ein paar Worte bei einer Begegnung, das war alles. Nun ja. Irgendwann begann ich dann, darüber nachzudenken, warum mir diese kurzen Begegnungen zu wenig erschienen. Es lag nahe, daß ich dabei auch an diesen beschriebenen Abend dachte und da dämmerte es mir langsam: das war es, was mir fehlte. Diese Nähe und Wärme, und dieses „prickelnde“ Gefühl. Das Gefühl konnte ich ziemlich gut einordnen, auch wenn es an sexuellen und erotischen Erlebnissen mit Gleichaltrigen mangelte. Aus denen habe ich mir nämlich nicht viel gemacht. Irgendwie fand ich „Männer“ interessanter als „Jungs“. Aber man hat ja auch noch sich selbst. Meine erotischen Erlebnisse waren eher autoerotischer Art und das auch nicht gerade frisch entdeckt, sondern schon einige Jahre lang. Als ich dann auch bei der Masturbation immer wieder an meinen Bekannten denken mußte, war die Sachlage eigentlich eindeutig für mich. Und nachdem ich mir sicher war, was es mit diesem „Mangel“ auf sich hatte, habe ich dann eben die nächste sich bietende Gelegenheit genutzt. Das war eben der bereits erwähnte Briefwechsel, um in dieser Richtung etwas in Bewegung zu setzen.

Interviewer:

Über den Briefwechsel würde ich gerne mehr erfahren. Man setzt sich doch nicht einfach hin und schreibt einen Brief an jemanden, den man zwei Jahre nicht mehr gesehen hat… Wie war das denn jetzt genau?

Anonymisiert:

Es ist ja nicht so, daß ich ihn überhaupt nicht mehr gesehen habe. Wir sind uns immer mal wieder begegnet, aber das war dann immer so eine Begegnung Marke: „Na wie geht es?“ „Danke, gut.“ „Was macht die Schule?“ „Kann nicht klagen. Und bei Dir?“ Irgendwie war das nicht gerade viel, vor allem nicht im Vergleich zu früher, da haben wir ganze Nachmittage und Abende zusammen verquatscht. So gesehen… Ich habe mich wirklich „einfach hingesetzt“ und ihm einen Brief geschrieben. Irgendwie war mir klar, daß ihm dieser eine Abend wohl irgendwie „peinlich“ war. Ich konnte daran allerdings nichts Peinliches sehen, und so habe ich mich eben hingesetzt und ihm einen Brief geschrieben um ihm zu sagen, daß ich schade fände, wenn man sich gar nicht mehr sieht und das jenes Erlebnis in meinen Augen nichts ist, was zur Peinlichkeit taugt. Auch habe ich ihm geschrieben, daß wir diesen Abend doch einmal fortsetzen könnten, wenn er noch Interesse habe.

Du siehst, man setzt sich manchmal wirklich hin und schreibt jemandem, den man zwei Jahre lang nicht mehr gesehen hat einfach einen Brief.

Interviewer:

Wie ging dann die Beziehung weiter? Wart ihr noch länger zusammen und wie hat Dein Umfeld auf diese Beziehung reagiert? Ich weiß nicht, wie zur damaligen Zeit die Mißbrauchsthematik in Deinem Kopf präsent war, aber hast Du Dir in dieser Richtung nie Gedanken gemacht?

Anonymisiert:

Wir haben uns ein paar Mal geschrieben und uns, nachdem wir uns darüber einig waren, daß es nichts Peinliches gibt, was zwischen uns steht, einfach mal wieder getroffen. War ein schöner Nachmittag, wir haben stundenlang gequatscht und dann bin ich gegangen. Am nächsten Tag haben wir uns wieder getroffen, haben erst gequatscht und irgendwann hat es dann ziemlich geknistert. Tja, und dann haben wir uns einfach geküßt. So einfach war das. Wie in jeder anderen Beziehung auch kam da einfach eins zum anderen. Übrigens ist mein damaliger Freund mir in bester Erinnerung geblieben, so gut wie er konnte bisher kein anderer Mann küssen… Wie lange unsere Beziehung bestanden hat, kann ich auf den Tag genau nicht mehr sagen, allerdings kann ich mich an das Anfangsdatum noch sehr gut erinnern, es war der 24. September. Auseinandergegangen ist die Beziehung dann (leider) im Januar, wenn ich mich nicht irre, so gegen Ende des Monats. Heute sehen wir uns nur noch selten, was ich ziemlich bedauerlich finde, aber wir haben beide einfach auch nicht mehr so viel Zeit wie früher und außerdem ist das Leben nun einmal so, daß Dinge zu Ende gehen und dafür anderes beginnt.

Reaktionen aus meinem Umfeld gab es in Bezug auf diese Beziehung keine, oder sagen wir besser wenige. Von der Beziehung wußte nur meine beste Freundin, anderen Leuten habe ich davon gar nicht erst was erzählt. Mein Freund hatte eine feste Beziehung, die wollte ich nicht gefährden. Außerdem hatte ich keine Lust, mich für diese Liebe zu rechtfertigen und zudem war mir klar, daß sehr viele diese Beziehung verurteilen würden. Denn die Mißbrauchsthematik war mir nur allzu präsent, da ein entfernter Bekannter von mir zu diesem Zeitpunkt gerade wegen „sexuellem Mißbrauch“ in U-Haft saß. Nicht ganz präsent war mir, daß „Mißbrauch“ auch ist, wenn der „Mißbrauchte“ sich gar nicht mißbraucht fühlt. Ich dachte damals eigentlich, daß „Mißbrauch“ gegen den Willen des Kindes bedeutet. Heute weiß ich, daß dies wohl ein falsches Verständnis unseres Rechtsstaates und seines Begriffs von „Gerechtigkeit“ ist. In Zusammenhang mit diesem entfernten Bekannten wurde ich einmal gefragt, was ich denn machen würde, wenn mir „so etwas“ passiert, meine Antwort darauf war eigentlich gar keine, ich schwieg ganz einfach und dachte mir meinen Teil dazu. Die einzige Reaktion die kam, war die von meiner Freundin und die hat es akzeptiert, sie meinte, ich werde schon wissen was ich tue und wenn man jemanden liebt, sei ohnedies nur das wichtig.

Interviewer:

Für viele Laien, aber auch ausgebildete Psychologen, gibt es das, was Du erlebst hast nicht oder Du bist für sie geschädigt, ohne das Du es selber wahrnimmst.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ja auch, daß denjenigen, die sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erfahren mußten, lange Zeit ja auch nicht geglaubt wurde und die Folgen nicht wahrgenommen wurden, im Prinzip also genau das Gegenteil, was heute passiert. Wie stehst Du dazu und dieser Bevormundung der eigenen Beurteilung von Erlebten?

Anonymisiert:

Zunächst einmal zu dem zuletzt von Dir genannten Punkt: ich denke, daß beide Reaktionen auf solche Situationen im Grunde nur zwei Seiten einer Medaille zeigen; sei es Ignoranz oder sei es Panik, Abwehrreaktion oder Überreaktion, beides drückt im Grunde nur die Hilflosigkeit derer aus, die mit einer solchen Situation konfrontiert werden. Ich kann verstehen, daß viele Menschen sich in solchen Situationen mit Erkenntnissen konfrontiert sehen, die sie in dieser Kürze nicht verarbeiten können; viele sehen sich mit „elementaren“ Ängsten konfrontiert, eventuell kommen sogar noch Selbstzweifel oder Minderwertigkeitskomplexe in bezug auf soziale Kompetenzen dazu, was all das noch verstärkt. Und derartige Ängste kommen bei den meisten Menschen vor allem dann auf, wenn es um Sexualität geht; dort hört bei vielen das Selbstvertrauen auf und es werden Ängste berührt, die nicht immer rational faßbar sind. Aber auch faßbarere Ängste spielen da eine nicht zu verachtende Rolle, in unseren Kulturkreisen vor allem die Religion und die Moral, wobei beides – leider – nicht zu trennen ist, unsere Moral ist nun einmal wesentlich durch das Christentum geprägt; was nicht unbedingt ein Vorteil sein muß. Gerade die Moral ist ihrem Wesen nach bei uns eher eine Tradition denn Produkt einer eigenständigen Reflexion, die wenigsten Menschen unterziehen die zunächst übernommenen Moralvorstellungen irgendwann einmal einer eingehenden Prüfung; das bringt eine relativ statische Haltung mit sich und vor allem eine Hilflosigkeit bei der Konfrontation mit Ereignissen, welche in diesem Schema keinen Platz haben. Was sich nicht einfügt, wird pauschal verdammt, ohne daß man sich auch nur einmal ansatzweise ernsthaft damit auseinandersetzt, dann nämlich könnte die ganze „schöne“ Theorie ins Wanken geraten – und man hat nie gelernt, und keiner hat es einem gezeigt, wie man mit solchen Veränderungen umzugehen hat bzw. wie man mit ihnen umgehen kann. Die meisten Werte sind oktroyiert und nicht im Laufe eines Lebens entstanden bzw. verändert worden. Ich halte diese Entwicklung generell für sehr bedenklich, denn sie zeigt ein erschreckendes Ausmaß an Selbstentfremdung und den Trend zur „Gleichmachung“, sei es durch andere oder durch die „gewollte“ Anpassung des einzelnen. Prinzipiell würde ich sagen, daß sowohl die eine Haltung als auch die andere Ausdruck einer Hilflosigkeit und auch eines gewissen Defizits sind, nämlich eines Defizits in Hinblick auf Selbstkritik, generelle Kritikfähigkeit, mangelndes Abstraktionsvermögen und in ganz besonderem Maße Mangel an Reflexionsvermögen; hinzu kommt noch, daß man heute immer meint, sich mit allem und jedem „identifizieren“ zu müssen, wodurch sehr häufig das Vermögen zur Distanz verloren geht und man nicht mehr in der Lage ist einen halbwegs neutralen und sachlich differenzierten Standpunkt einzunehmen. Ich würde solche Tendenzen als Konsequenz der Entindividualisierung  bezeichnen, auch wenn der angebliche „Individualismus“ so groß geschrieben wird, denn „individuell“ darf man im Grunde auch nur so lange sein wie man nicht „individueller“ ist als allgemein gewünscht und anerkannt. Denn sonst zwingt man die Leute zum Nachdenken einerseits und zur Auseinandersetzung mit sich selbst und den eigenen Fehler anderseits – und beides ist nicht gerade gern gesehen, geschweige denn erwünscht.

Die Tendenz von der Ignoranz zum Wahn sehe ich als eine Konsequenz all dessen: als man erkannt hat, daß einen die Ignoranz nicht weiterbringt, ist man quasi „umgestiegen“ auf die andere Seite der Pauschalisierung. Getreu dem Motto: „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Beide Methoden bringen es auf jeden Fall unzweifelhaft mit sich, daß man sich keineswegs ernsthaft und differenziert mit einem unliebsamen Thema befassen muß. Die Schutzmechanismen, welche man den „Opfern“ einredet, welche sich keineswegs als geschädigt erleben, funktionieren in gesellschaftlicher Hinsicht zweifellos ausgezeichnet – und ohne, daß hieran einmal scharfe öffentliche Kritik geübt wird. Oder eigentlicher: geübt werden kann, die Stimmen sind da – durchaus – nur eben diese möchte man ja nicht hören, sie sind nicht von „öffentlichem Interesse“.

Doch bevor ich diese, in Hinblick auf ihren eigentlichen Umfang hier eigentlich kurze, Betrachtung noch weiter ausdehne, möchte ich im Anschluß daran doch lieber auf Deine zweite Frage kommen. Du hast gefragt, wie ich zu der Bevormundung seitens der Öffentlichkeit und einiger Populär“wissenschaftler“ stehe; kurz gesagt: ich empfinde sie als Frechheit und Anmaßung im höchsten Grade. Die Gründe für diese Sichtweise dürften in dem zuvor gesagten zwar keineswegs hinreichend aber dennoch ansatzweise deutlich geworden sein. Ich halte mich für durchaus dazu befähigt, meine Situation angemessen einschätzen und beurteilen zu können, auch wenn ich mich vorherrschenden Denkmustern nicht zwingend, kritiklos und beifallheischend beuge; eine solche Sichtweise mag unter Umständen zwar nicht gesellschaftsfähig sein, aber sie ist auf jeden Fall ehrlich; ehrlich mir selbst gegenüber – und darauf kommt es letztendlich an. Ich habe keine Lust dazu und ich sehe auch keine Notwendigkeit darin, mir aus falschem Respekt vor längst überholten und zu Dogmatismen verkommenen Traditionen, einer falsch umgesetzten dominanten Religion und einer zur Ideologie verkommenen, verlogenen und vollkommen unkritischen Moral selbst in die Tasche zu lügen. Da halte ich es doch lieber mit einem zwar alten, aber durchaus kritischen und leider noch immer nicht überholten, sondern heute ebenso wie damals aktuellen – ja geradezu notwendigen – Ausspruch Immanuel Kants, dem Sinne der Aufklärung entsprechend:

Sapere aude!