Juristische Argumente statt aufgeregter Rhetorik
– Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität e.V. (AHS) zu einer Entscheidung des Münchener Oberlandesgerichtes, einen des sexuellen Missbrauchs von Kindern Verdächtigen aus der Untersuchungshaft zu entlassen –

In München wurde mit Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 28. März 2003 ein Haftbefehl gegen einen 65-jährigen Mann, gegen den wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Kindern ermittelt wurde, gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt. Diese Außervollzugsetzung des Haftbefehles hat insbesondere in den süddeutschen Medien, vornehmlich der Süddeutschen Zeitung, in den letzten Tagen – 9 Monate nach der Entscheidung – erhebliche Unruhe ausgelöst, u.a. spricht die Süddeutsche Zeitung von einer „Freifahrkarte für Kinderschänder“ und einem „Skandal“, da das Gericht als Grund für die Haftentlassung u.a. aufführe, die betroffenen Kinder seien durch die sexuellen Handlungen wenig geschädigt worden.

Die AHS möchte mit dieser Presseerklärung den Beschluss des Oberlandesgerichts nicht bewerten, denn auch der AHS sind genauer Wortlaut des Beschlusses und Hintergründe des Falles nicht bekannt, da sie ihre Informationen auch nur über die Medien beziehen kann. Sie sieht sich in dieser Situation daher nicht in der Lage, die Entscheidung des Oberlandesgerichts seriös bewerten zu können. Die AHS möchte die Gelegenheit aber nutzen, auf einige juristische Hintergründe hinzuweisen, die in der Aufregung der Tagespresse leider untergehen:

Dass das Oberlandesgericht München bei der Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft sich damit auseinandergesetzt hat, wie schwer die durch die mutmaßlichen Handlungen des Untersuchungshäftlings verursachten Schäden waren, ist alles andere als skandalös, sondern ein normaler Vorgang. Die Untersuchungshaft auf Grund Wiederholungsgefahr nach § 112a StPO erfordert nach den einschlägigen Kommentaren und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass durch die Anlasstat eine „schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung“ (Kleinknecht, StPO § 112a Rn. 9) erfolgt sein muss, eine solch enge Auslegung ist grundrechtlich geboten. Ferner ist juristisch allgemein erkannt, dass es innerhalb des Tatbestands des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 StGB leichte und schwere Fälle gibt – wegen des weitreichenden Tatbestands fallen unter § 176 StGB nämlich oberflächliche Berührungen ebenso wie brutale Vergewaltigungen. Es war daher juristisch korrekt, dass sich das Oberlandesgericht mit der Frage der Schwere des Schadens durch die mutmaßlichen Handlungen des Untersuchungshäftlings auseinandergesetzt hat.

Ferner wird dem Oberlandesgericht zum Vorwurf gemacht, es habe den Untersuchungshäftling freigelassen, obwohl er eventuell vermindert schuldfähig sei und daher möglicherweise in nächster Instanz in die Psychiatrie eingewiesen werde. Die Süddeutsche Zeitung betrachtet es in ihrem Artikel vom 09.12.2003 als Widerspruch, dass einerseits verminderte Schuldfähigkeit diskutiert werde, andererseits der Verdächtige aber „frei herum läuft“. Hierzu sei angeführt, dass nicht jeder Mensch, der auf Grund einer psychischen Störung vermindert schuldfähig ist, automatisch gefährlich ist. Erforderlich für die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO ist über die zu erwartende verminderte Schuldfähigkeit hinaus eine besondere Gefahr für die Allgemeinheit. Dass also das Gericht nicht automatisch wegen der Möglichkeit verminderter Schuldfähigkeit die vorläufige Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet hat, ist ebenfalls nicht nur als juristisch korrekt anzusehen, sondern es ist sogar grundrechtlich geboten.

Abschließend empfindet die AHS es als rechtsstaatlich höchst problematisch, wenn bundesweit anerkannte Zeitungen wie die Süddeutsche Zeitung die juristische Frage der Haftentlassung eines Untersuchungshäftlings ausschließlich unter Zuhilfenahme von Opferhilfevereinen und deren Psychologen diskutieren und dabei völlig vernachlässigen, dass Untersuchungshaft einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen darstellt, der stets einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Es hat den Anschein, dass juristische Argumentation auch gar nicht gewünscht ist, sondern stattdessen dem „gesunden Volksempfinden“ breiter Raum gelassen wird. Letztendlich sieht die AHS darin auch eine Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz: Es muss einem Richter möglich sein, unpopuläre Urteile zu fällen, ohne daraufhin sofort von der Presse massiv unsachlich angefeindet zu werden. Kritische Auseinandersetzung mit Gerichtsurteilen ist in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich notwendig und erwünscht, ein gewisses Maß an Sachkompetenz sollte aber schon gewahrt bleiben, Begriffe wie „Freifahrkarte für Kinderschänder“ bedienen dagegen nur Emotionen und verhindern sogar notwendige sachliche Auseinandersetzung.

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